Hallo Herr Birri,
eigentlich warte ich schon seit längerem auf einen öffentlichen kritischen Beitrag zur gegenwärtigen Zertifizierungspraxis von QM-Systemen und deren praktische Anwendung in den Unternehmen. Leider waren Ihre Ausführungen mehr als enttäuschend, schlecht und oberflächlich argumentiert, perspektivlos. Leider kann ich es mir nicht leisten, selbst öffentlich zu zündeln, obwohl ich mich das Bedürfnis seit langem furchtbar quält.
Absatz 1 ihres Beitrages:
Sie rufen nach neuen Mechanismen, ich zitiere: _....... die diese (Organisatiionen) dazu bringen, periodisch Anstrengungen zu unternehmen, um solche Zustände zu erkennen, zu beseitigen und Möglichkeiten zu finden, um sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen."
Sie schließen sich hiermit den immer wieder gern und häufig geäußerten Aufrufen vieler Fachleute, Berater, Zertifizierungsgesellschaften und diplomatischer Koryphäen des QM an. Aber nach Was rufen sie eigentlich konkret? Welche Mechanismen meinen sie? Wer sollte die Hebel dieser gelobten Mechanismen bewegen und wer darf sie bewegen? Wollen Sie die bisher private Führung der Unternehmen in eine Führung durch den Staat per Gesetz umwandeln oder völlig neue Zertifizierungsgrundlagen, -instrumente und Institutionen schaffen?
Der Einzige, welcher tatsächlich Macht besitzt, ist und bleibt der Kunde. Der Kunde fordert bei einem Produkt/Leistung eine bestimmte Qualität zu einem angemessenen Preis.
Den Begriff _des Kunden" möchte ich in dieser Diskussion von zwei Seiten beleuchten. Zuerst ist der Kunde der Zertifizierungsgesellschaft zu nennen. Auf diesen komme ich später noch einmal zurück. Zweitens ist der Kunde des zertifizierten Unternehmens näher zu betrachten.
Der Kunde des Unternehmens, ist derjenige welcher letztendlich das Produkt/Leistung des zertifizierten Unternehmens kauft. Gibt er sich mit einem ISO-Zertifikat sowie mit durchschnittlicher Produktqualität und wirtschaftlicher Labilität zufrieden, unterstützt er damit zweifelsfrei die kritisierte Zertifizierungspraxis. Achtet der Kunde jedoch peinlich darauf, dass sein Lieferant seine Prozesse beherrscht und wirtschaftlich zuverlässig ist, z. B. durch Lieferantenaudits oder Bonitätsprüfungen etc. etc., und arbeitet er mit dem Lieferanten auch auf dieser Schiene eng zusammen, entsteht ein völlig neues Kunde-Lieferant-Gefüge. Nichts ist wirksamer als die Kritik des Kunden, welche idealerweise auch auf die Zertifizierungsgesellschaften durchgereicht werden müsste. Es wäre doch wirklich interessant, wenn ein Kunde eines zertifizierten Unternehmens bei der Zert-Gesellschaft nachfragen würde, was sie wohl wieder für einen Murks (Unternehmen ist z. B. wirtschaftlich labil) zertifiziert haben und welcher Auditor dafür verantwortlich ist.
Ein zweites Problem ist die Haftung von Zertifizierungsgesellschaften. Das Erteilung des Qualitätszertifikates ist völlig haftungsfrei. Der Zertifizierungsgesellschaft entstehen hier keinerlei Verpflichtungen aus irgendwelchen einklagbaren Schadensersatzansprüchen. Das ist das gleiche wie mit der TÜV-Plakette am PKW. Sie zahlen zuverlässig im Zweijahresrhythmus eine zuverlässig kalkulierbare Summe und bekommen den Kuckuck für ihr Nummernschild. Sie fahren nach bestandener Prüfung auf die nächste Landstraße und ihr Querlenker bricht und sie landen am nächsten Baum. Der TÜV haftet nicht. Sie haben zwar ihren Persilschein für die nächsten zwei Jahre bekommen und müssen bei der Polizeikontrolle kein Bußgeld zahlen. Auf Ihren Unfallschäden bleiben sie jedoch sitzen. Das ISO-Zertifikat ist durchaus vergleichbar, dient es doch immer noch als Türöffner für die Einkaufsabteilung des unkritischen Kunden.
Z. B. Wirtschaftsauskunfts-Unternehmen wie die Bürgel-Auskunft können sich bei Ihrer Unternehmensbeurteilung keine Fehler erlauben. Was glauben sie, wie schnell sich hier negative Schlagzeilen herumsprechen und die Firma vom Markt verschwinden würde. Bei Zertifizierungsgesellschaften habe ich noch nie ernsthafte Kritik mit Name und Adresse gehört bzw. gelesen. Es spricht sich halt unter Insidern herum, bei welchen Gesellschaften das Zertifikat besonders leicht zu erlangen ist.
Nun möchte ich noch auf den Kunden der Zertifizierungsgesellschaft zurückkommen. Ich habe bereits oben ausgeführt, dass der Kunde letztendlich die Qualität bestimmt. Es ist ein ganz einfaches Spiel der Wirtschaft, wenn der Kunde mit niedriger Qualität zu entsprechenden Preisen zufrieden ist, warum sollte ich dem Kunden mehr fürs Geld bieten? Die Absenkung der Qualität ist mein Geld, mein unmittelbarer Gewinn. Die Qualität wird immer nach unten an das vom Kunden gerade noch akzeptierte Niveau angepasst. Biete ich dem Kunden mehr Qualität, als er eigentlich fordert, ist das entweder meine Gewinnschmälerung wegen der Preisanpassung nach unten an billigere Konkurrenzprodukte oder mein Kundenverlust, weil dieser nicht mein teureres Produkt mit hoher Qualität kauft, sondern mit dem billigen auch zufrieden ist.
Damit sehe ich auch die Frage beantwortet, warum der ISO-9000-Markt schrumpft. Unternehmen, die das Qualitätsmanagement nach ISO 9000 ernst nehmen und den damit den ursprünglich initiierten Qualitätsgedanken leben, werden in den gleichen Topf mit den Unternehmen geworfen, welche sich ein Zertifikat kaufen oder durch wirtschaftlichen Druck auf die Zert-Gesellschaft erpressen.
Und wieder ist der Kunde gefragt. So lange der Kunde die Zertifizierungsgesellschaft bezahlt, ohne konkret zu fragen für welche Leistung oder für welchen Nutzen für sein Unternehmen, können sich die Zertifizierungsgesellschaften recht sicher fühlen. Sie sind bisher nicht gezwungen, die Qualität ihres Produktes kritisch zu hinterfragen. Für sie ist lediglich die Verteilung des Marktes interessant. Damit haben sie eine große Sorge weniger.
Abschnitt: Ein schrumpfender Markt ...... (Verbandelung der Zert-Gesellschaften, Berater zu Interessengruppen)
Es ist doch das gleiche wie mit Öko- oder Bio-Siegeln, Fernsehgebühren, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden und anderen Lobbyistenverbänden. Wo es leichtes Geld zu verdienen gibt, macht man es sich gegenseitig möglichst leicht und viele partizipieren vom großen Kuchen zum gegenseitigen Nutzen. Wie viele Unternehmen unterhalten Büros in Brüssel, welche allein der reinen Lobbyismusarbeit dienen? Eine qualitativ bewertete Medikamenten-Liste oder das Patientenprotokoll wurde bekanntlich auf Kosten der Krankenkassen-Beitragszahler erfolgreich verhindert = alles Lobbyismusarbeit.
Abschnitt: mit bedenklichen Praktiken....
Das verstehe ich nicht so recht. Wieso sollte der Kunde (Unternehmen) von der Zertifizierungsgesellschaft abhängig sein? Nach ihren Worten zum Beginn ihres Beitrages sowie in der von mir erlebten Realität sieht die Welt doch ehr anders aus. Nicht ausschließen möchte ich, dass es Unternehmen gibt, die vor dem Zert-Auditor noch vor Erfurcht erzittern. In diesem Forum liest man immer wieder einmal diesbezügliche Beiträge, wo sich ein Auditor wie der amtliche Steuerprüfer benommen hat.
Die Zertifizierungsgesellschaften stehen in einem schnöden wirtschaftlich ausgerichteten Konkurrenzkampf um Kunden und Marktanteile. Ich kenne inzwischen leider bereits mehrere Beispiele, in denen der auditierende Auditor vom zertifizierungswilligen Unternehmen massiv unter Druck gesetzt wurde und diesem Druck auch nachgegeben hat. Der Druck wurde zumeist mit der Androhung des Auftragsverlustes und der Kompromittierung des Auditors vor seinem Arbeitgeber erzeugt. Das Zertifikat wurde immer ausgestellt und die Rezertifizierungen waren lediglich Formsache.
Abschnitt: Eingesperrt im ISO-Umfeld
Hier gehen sie wiederum von unmündigen Kunden aus. Welcher Kunde sollte sich aus welchen Gründen auch immer dazu nötigen lassen, bei einer bestimmten Zertifizierungsgesellschaft Schulungen zu buchen. Es ist schließlich das Geld des Unternehmens, welches in die Schulungen investiert wird. Wenn sich das ein Kunde kritiklos gefallen lässt, na dann gute Nacht. Wenn der Zertifizierer diese regelrechte Erpressung auch noch dokumentiert, ist er mindestens genau so naiv wie sein Kunde. Und wieder ist der Kunde (diesmal im Sinne Kunde der Zert-Gesellschaft und Kunde des zertifizierten Unternehmens) gefragt, der diese Praxis der _manövierbaren Masse" gegen sich duldet.
Ich hätte überhaupt kein Problem, gänzlich auf das Zertifikat zu verzichten und aus diesem ISO-Käfig auszubrechen und jeden meiner Kunden in die Firma einzuladen, sich hier umzusehen. Ich würde sogar einen Imbiß zu Mittag spendieren. Aber mein Kunde fordert den formalen Persilschein, ohne sich die Mühe eines persönlichen Besuches zu machen, ohne sich tatsächlich davon zu überzeugen, wie solide die Firma ist und zu welcher Qualität sie fähig ist.
_.... .... nicht alles auf die alleinige Kundenzufriedenheit fokussieren." - Auf was sonst? Unbestechlichkeit ist nur möglich, solange der Kunde diese duldet und an einem objektiven Urteil durch eine außenstehende Person interessiert ist - den Auditor quasi als Berater nutzt.
Absatz: Ausschau nach Alternativen
Holla, sie haben den Nagel, den es auf den Kopf zu treffen gilt, ja doch annähernd gefunden. Die Bereitschaft anhand des Zitates von Hesse sollte eigentlich im Herzen jeden Unternehmers/Managers schlummern. Denn die Bereitschaft zur Umsetzung ist oft das einzige was uns fehlt. Ich erwarte von einem Manager, sich und sein Unternehmen und sein Tun täglich kritisch zu betrachten und die Bereitschaft sich und sein Unternehmen täglich neu zu ergründen und zu erfinden, Sichtweisen zu wechseln und sich dabei an möglichst objektive Fakten zu halten. Dabei wüsche ich mir selbst, diese Fähigkeiten selbst zu besitzen und nicht aus den Augen zu verlieren. Völlig unabhängig von ISO 9000 ist das kritische Hinterfragen von Unternehmensprozessen, die Geschäftstüchtigkeit und das Umsetzen geeigneter Maßnahmen durch die jeweilig führende Person und viele weitere Faktoren für den Erfolg des Unternehmens ausschlaggebend - völlig unabhängig ob im Unternehmen ein ISO-System, QM-System oder XYZ-System eingeführt ist oder nicht. Das ist keine Erfindung von EFQM. EFQM ist nur ein weiteres Werkzeug. Speck setzen auch unzertifizierte Unternehmen an.
Weiter in diesem Abschnitt:
Durch welches Instrument wollen sie ISO ersetzen - alter Wein in neuen Schläuchen? Werkzeuge und Methoden gibt es meiner Ansicht nach in einer unübersehbaren Menge. Jeder kann sich unabhängig von ISO, EFQM, TQM, BS, Six Sigma ... ... und Teufel hau mich weg - aus diesem unerschöpflichen Werkzeugkasten nach Herzenslust bedienen und sich das für sein Unternehmen optimale heraussuchen. ISO verfügt hier über keinerlei Beschränkungen. Außerdem enthält die ISO 9001 die Verpflichtung zur ständigen Verbesserung, ohne konkrete Prozesse dafür vorzugeben. Die Norm steht keinesfalls der weiteren Entwicklung des Unternehmens entgegen oder fordert gar das Verharren des Unternehmens auf diesem Niveau. Hier hätten sie die ISO 9001 genauer lesen sollen. ISO 9000 enthält keine bürokratischen Forderungen. Hier wird sie lediglich fehlinterpretiert. Es gibt immer die schönen Info-Heftchen der Zertifizierungsgesellschaften in denen die Nachweise zur Normkonformität aufgelistet sind - ein Graus. Viele Unternehmen verlieren sich in einem Sumpf von Bürokratie, um die aufgelisteten Nachweise möglichst lückenlos zu erbringen. Letztendlich sind dies Heftchen gut geeignet, um als QMB oder Auditor den Geschäftführer zu schlagen.
Jetzt komme ich zum Gruselbegriff _Normkonformität". ISO 9001 ist nicht statisch auf Normkonformität ausgerichtet. Damit wäre die 9001 viel zu unflexibel und nicht auf die unterschiedlichsten Branchen anwendbar. Das ist ein Märchen. _Normkonformität" ist der typische Begriff aus dem QM-Gruselkabinett, wenn ein QMB oder ein Auditor bei der Geschäftleitung nicht mehr weiterweiß und ihm als letztes Mittel noch die leise Drohung mit der Normkonformität bleibt, wenn andere sinnvolle Argumente nicht fruchten wollen. Die Drohung dient doch dem Ziel, das zertifizierungswillige Unternehmen wenigstens zu Einhaltung eines unternehmerischen Mindeststandards zu bewegen. Leider ist ein autoritärer oder inkompetenter Missbrauch durch einzelne Auditoren nicht auszuschließen. Ich kann nicht ausschließen, dass sich mancher Auditor aus Bequemlichkeitsgründen auf die sogen. Normkonformität zurückzieht.
Abschließend:
Das ISO-System sowie die gesamte Zertifizierungsbewegung ist ein rein privatwirtschaftliches und freiwilliges Unterfangen. Damit unterliegt das System keinerlei Zwängen oder Richtlinien. Es sei denn, es sind selbst geschaffene, welchen sich das System wiederum freiwillig unterwirft.
Wir leben nun einmal in einer rein kapitalistischen Gesellschaft des Privateigentums. Jeder Unternehmer kann sein Unternehmen im Rahmen gesetzlicher Normen nach seinem besten Wissen und Gewissen voranbringen oder zerstören - es ist sein Eigentum. Der Unternehmer benötigt eigene Motivation und Kompetenz ein Unternehmen wirtschaftlich zu führen. Er benötigt genügend Biss und Gier, um Gewinn zu erzielen und das erforderliche Know How und den Verstand, um seine Prozesse effizient zu gestalten und seine Gewinnziele zu erreichen. Wenn dem Unternehmer die erforderlichen Fähigkeiten zur Führung seines Unternehmens fehlen, wer sollte ihn dafür bestrafen, ausgenommen das Gericht im Falle der Insolvenz?
Sie können mit keinem Mechanismus, Gesetz, Methode die Mündigkeit, Kritikfreudigkeit und Selbständigkeit des Kunden ersetzen. Wie wäre es mit einer unabhängigen _Stiftung Warentest" für Zertifizierer? Scherz beiseite: Die TGA sollte in Deutschland eigentlich regulierende, überwachende und prüfende Funktionen wahrnehmen. Aber dieser _Tiger" scheint mir recht zahnlos und damit wirkungslos zu sein.
Alles in allem ist ihr Beitrag eine pauschale Breitseite gegen die ISO-Bewegung ohne wirklich neue konkrete Konzepte anzubieten und ohne auf den Punkt zu kommen. Sie betrachten nicht das Gesamtsystem und das Zusammenspiel unterschiedlichster Einflussfaktoren sondern lediglich einen begrenzten Ausschnitt des Systems.
Gruß Vivian